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65 Jahre HAGE: Gesundheitsförderung gestern, heute und morgen

Interview anlässlich der Jubiläums-Fachtagung

22. Juni 2023
Die HAGE feierte am 20. Juni 2023 ihr 65. Jubiläum mit der Fachtagung „Von der Gesundheitserziehung zur Gesundheitsförderung“. Im Nachgang dazu wirft Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der HAGE, im Interview einen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesundheitsförderung in Hessen.
Dr. Katharina Böhm steht hinter dem Rednerput und hält einen Vortraggährend der Veranstaltung
Dr. Katharina Böhm während ihres Vortrags auf der Jubiläums-Fachtagung

 


Im Interview • Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der HAGE

Frau Dr. Böhm, die HAGE wurde 1958 als Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung gegründet. Wie hat sich das Verständnis von Gesundheitsförderung im Lauf der Zeit verändert?
In den ersten Jahrzehnten lag der Arbeitsschwerpunkt der HAGE darauf, das Verhalten des Einzelnen durch Aufklärung und Informationskampagnen gesundheitsförderlich zu beeinflussen. Anfang der 1960er-Jahre hat die HAGE zum Beispiel jährlich eine Auflage von rund 5-7 Millionen Informationsschriften veröffentlicht, später kamen Radio- und Fernsehspots hinzu. Im Nachgang der Veröffentlichung der Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation 1986 haben sich das Verständnis und das Vorgehen hinsichtlich Gesundheitsförderung und Prävention international und auch in Hessen schrittweise verändert.

„Gesundheitsförderung fokussiert sich heute
auf die sozialen Determinanten der Gesundheit.”

Was bedeutet das konkret?
Man hat erkannt, dass der Gesundheitszustand des Einzelnen nur im begrenzten Maß durch Aufklärung und Information, die das individuelle Verhalten adressieren, zu beeinflussen ist – und dass soziale Determinanten maßgeblichen Einfluss haben. Deshalb fokussiert sich Gesundheitsförderung inzwischen auf die sozialen Determinanten der Gesundheit. Sie zielt vor allem darauf ab, Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen gesundheitsförderlich zu gestalten – mehr und mehr auch unter Beteiligung der betroffenen Menschen. Entsprechend wird sie heute nicht mehr nur als Aufgabe des Gesundheitswesens verstanden, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei nehmen auch die Kommunen eine zentrale Rolle ein. 

Worin liegen aktuelle Herausforderungen der Gesundheitsförderung in Hessen?
Die Herausforderungen sind vielfältig. Wir sehen einen Anstieg unterschiedlicher gesundheitlicher Belastungen wie zunehmenden Bewegungsmangel, gesundheitliche Auswirkungen der Coronapandemie insbesondere bei Kindern und Jugendlichen oder gesundheitliche Folgen des Klimawandels, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Belastungen sind auch in Hessen sozial sehr ungleich verteilt, das heißt sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen weisen einen schlechteren Gesundheitszustand auf als sozial besser gestellte Gruppen. Diese Probleme treffen auf zunehmend überlastete kommunale Strukturen mit klammen kommunalen Finanzhaushalten und spürbarem Fachkräftemangel. 

Und wie könnten Lösungsansätze aussehen?
Aus meiner Sicht ist es notwendig, dass Gesundheitsförderung in allen Politikfeldern einen höheren Stellenwert bekommt. Nahezu alle politischen Entscheidungen haben Auswirkungen auf unsere Gesundheit, Gesundheit muss deshalb überall mitgedacht werden, sei es bei der Stadtplanung, der Verkehrsplanung oder bei bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen. Gesundheitsförderung ist dabei keine Zusatzaufgabe, sondern Voraussetzung für eine gesunde und damit resiliente und leistungsfähige Gesellschaft. 
Auch ist es notwendig, dass alle relevanten Akteure über Sektorgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Ein Beispiel hierfür ist das Landesprogramm „Sportland Hessen bewegt“. Hier arbeiten fünf Landesministerien, der Landessportbund Hessen und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen zusammen mit dem gemeinsamen Ziel, mehr Bewegung für alle in Hessen zu schaffen. Ähnliche intersektorale Kooperationen sind insbesondere im Hinblick auf die Prävention der klimawandelbedingten Gesundheitsgefahren notwendig. 

„Gesundheitsförderung ist Voraussetzung für eine gesunde
und damit resiliente und leistungsfähige Gesellschaft.”

 

Während der Jubiläums-Fachtagung ging es auch um kommunale Koordinierungsstrukturen. Wie tragen diese zur Gesundheitsförderung und Prävention bei?
Es gibt in Hessen sehr viele Angebote und Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention von verschiedensten Institutionen. Die Maßnahmen sind oft nicht aufeinander abgestimmt und auch nicht am Bedarf vor Ort ausgerichtet. Kommunale Koordinierungsstrukturen möchten dies ändern – kommunale Gesundheitskoordinator*innen entwickeln mit den relevanten Akteuren vor Ort eine ganzheitliche kommunale Gesundheitsstrategie. Auf Grundlage einer ausführlichen Bestands- und Bedarfsanalyse werden Ziele definiert und passende Maßnahmen abgeleitet. Auch ist dabei zentral, die Zusammenarbeit der Akteure vor Ort zu ermöglichen und zu verbessern, um so Synergien zu schaffen.

Wo sehen Sie Impulse für die Zukunft?
Aus meiner Sicht geht es darum, tragfähige, resiliente Strukturen sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene zu schaffen. Die Coronapandemie hat gezeigt, wie wichtig Strukturen der Zusammenarbeit und ein bestehender Zugang zu den Menschen ist. Es gilt deshalb, Netzwerke vor Ort zu entwickeln und Zugänge zu Bevölkerungsgruppen zu schaffen, die bislang von Angeboten nicht gut erreicht wurden. Hier gibt es bereits Aktivitäten, zum Beispiel die Präventionsketten für Kinder und ihre Familien, die aktuell in zehn hessischen Kommunen entwickelt werden. Oder Sorgenetzwerke, die in einigen Kommunen angedacht werden, um die Betreuung der Älteren in einer älterwerdenden Gesellschaft sicherzustellen. Ein weiteres zukünftiges Handlungsfeld ist die bessere Verschränkung von medizinischer Versorgung und Prävention in den gerade entstehenden verschiedenen neuen Versorgungsmodellen. 

„Das Netzwerk HAGE ist groß und vielfältig.”

Ihr Fazit zur Jubiläums-Fachtagung lautet wie?
Die Fachtagung hat mir gezeigt, dass das „Netzwerk HAGE“ groß und vielfältig ist. Das Netzwerk HAGE lebt, darüber freue ich mich sehr, und ich danke allen, die daran beteiligt sind und sich dafür einsetzen.

 

Foto: © HAGE/andreasmann.net