nachricht

5. Qualifizierungsmodul des Landesprogramms „Präventionsketten Hessen”

Bericht zur Veranstaltung vom 02./03.09.2024

27. September 2024
Anfang September setzte die Landeskoordinierungsstelle „Präventionsketten Hessen” das fünfte Qualifizierungsmodul für kommunale Koordinator*innen um. Das Thema lautete „Koordination von Präventionsketten systemisch verstehen”".
Menschen die bunte Zahnräder aneinanderhalten

 

Das Landesprogramm „Präventionsketten Hessen" startete im Januar 2023 mit dem Ziel, zehn hessische Kommunen beim Aufbau, der Weiterentwicklung und der nachhaltigen Verankerung passgenauer lokaler Präventionskonzepte für Kinder und ihre Familien zu unterstützen. 

Um die Koordinationsfachkräfte bestmöglich auf diese umfassende Aufgabe vorzubereiten, führte die Landeskoordinierungsstelle Präventionsketten Hessen 2023 drei Basisqualifizierungendurch; darauf folgte Anfang 2024 die vierte Qualifizierung zu den Themen „Rechtsübergreifende Kooperationsgebote” und „Lobbyarbeit”. 

Systemtheorie und Systemisches Arbeiten

Darauf aufbauend und dem Themenwunsch einer Kommune folgend, beschäftigte sich das fünfte Qualifizierungsmodul mit dem Thema „Koordination von Präventionsketten systemisch verstehen“. Die Grundlagen Systemischen Arbeitens sind umfangreich, daher dienten die beiden Tage als erste Einführung in das Thema. Im Fokus standen die Rolle als Koordinator*in und die Arbeit im Netzwerk. 

Anke Lingnau-Carduck gestaltete die Veranstaltung. Die Inhalte wurden durch informative und interaktive Formate vermittelt. Für die Teilnehmenden gab es die Möglichkeit, zu den theoretischen Inhalten und vorgestellten Methoden den Bezug zur eigenen Arbeit herzustellen und über Beispiele aus dem persönlichen Arbeitsalltag zu diskutieren. Dieser Austausch untereinander wurde als sehr gewinnbringend empfunden. 

Der Qualifizierungsworkshop fand in den Räumlichkeiten des Hauses der Jugend in der Stadt Kassel statt.

Koordination von Präventionsketten systemisch verstehen

02.09.2024: Systeme und Systemisches Arbeiten

Die Referentin Anke Lingnau-Carduck eröffnete den Workshop mit einer Kennenlernrunde im Stil des Systemischen Arbeitens: Jeder Teilnehmende sollte sich aus der Sicht einer Kollegin*eines Kollegen, eines Familienmitglieds oder einer Freundin*eines Freundes vorstellen. Ziel dieser Methode war es, die Teilnehmenden gleich zu Beginn zu einem Perspektivwechsel anzuregen. 

Selbstorganisierende Systeme

Anschließend erläuterte die Referentin, was ein System ist und wie selbstorganisierende Systeme (lebende Systeme) aus systemtheoretischer Sicht verstanden werden. In den Präventionsketten arbeiten die Koordinator*innen in verschiedenen lebenden Systemen. Dabei handelt es sich um soziale Systeme wie Gruppen, Familien, Organisationen oder die Gesellschaft. Es ist nicht einfach, diese Systeme und das Verhalten der einzelnen Beteiligten in den Gruppen zu verstehen. Jede Gruppe und jedes System hat seine eigene Dynamik, die sich aus der Realität der einzelnen Teilnehmenden zusammensetzt. Sie verändert sich, wenn neue Personen hinzukommen oder wenn zugehörige Personen abwesend sind. Jeder Mensch ist anders, und deshalb sind auch die Beziehungen und der Umgang miteinander anders. Dies führt zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Systemisches Arbeiten und der Auf- und Ausbau von Präventionsketten

Der Wissenstransfer in die Praxis erfolgte mit Blick auf eine Struktur, an der sich alle Kommunen im Landesprogramm „Präventionsketten Hessen" orientieren: Es werden eine Steuerungsgruppe, eine Lenkungsgruppe und eine Planungsgruppe gebildet. Die Steuerungsgruppe trifft die entscheidenden Weichenstellungen und verteilt die Aufgaben. Sie besteht aus hohen Entscheidungsträger*innen wie Amtsleitungen, Bürgermeister*innen und Landrät*innen. Die Planungsgruppe erarbeitet die Aufträge, bringt ihre Expertise ein und setzt die Aufträge um. In dieser Gruppe sitzen Mitarbeitende aus verschiedenen Ämtern, Interessensvertretungen für Kinder und Familien und Akteur*innen aus der kommunalen Praxis.
Als Koordinator*in diesen Gruppen und Systemen ist es wichtig, die Teilnehmenden, den Verlauf und die Entwicklungen zu verstehen. Dabei kann die Perspektive Systemischen Arbeitens helfen. Das bedeutet auch, dass nicht alle Entwicklungen einer Gruppe oder eines Systems beeinflusst werden können. In der Koordination von Systemen und Gruppen ist es wichtig zu zeigen, welche Rolle man als Koordinator*in hat, das gemeinsame Ziel festzulegen und den Mehrwert für alle Teilnehmenden zu verdeutlichen. Wenn es Herausforderungen in einer Gruppe gibt, sollten Koordinator*innen dies losgelöst von ihrer eigenen Person wahrnehmen. Es ist hilfreich, sich bewusst zu machen, dass die Ergebnisse einer Gruppe oder eines Systems nur so gut sein können, wie es die Gruppe zulässt.

Umgang mit Störfaktoren

Anke Lingnau-Carduck zeigte auf, wie man als Koordinator*in mit störenden Faktoren wie Aussagen oder Verhaltensweisen von Teilnehmenden umgehen kann. Methoden hierfür sind z. B. das direkte Ansprechen der Person oder ein kurzer Austausch in Kleingruppen. Der Einsatz verschiedener Methoden ist situationsabhängig und ermöglicht es der koordinierenden Fachkraft zu entscheiden, ob Herausforderungen an die gesamte Gruppe weitergegeben werden oder in der eigenen Verantwortung bleiben. Als Koordinator*in ist es wichtig, offen und transparent zu kommunizieren. 

Der erste Workshoptag endete mit einem gemeinsamen Ausklang im kleinen Kreis mit einer Stadtführung durch Kassel und einem Abendessen.

03.09.2024: Komplexe Systeme, Kommunikation, Herausforderungen

Der zweite Tag der Qualifizierung begann mit den „Weisheiten der Nacht” - die Teilnehmenden teilten ihre Eindrücke, Fragen und Anmerkungen zum ersten Tag: 

  • die Verantwortung das Prozesse umgesetzt werden, liegt in der Verantwortung aller Netzwerkteilnehmer*innen und nicht nur an der Koordinator*in/Moderator*in
  • Auftragsklärung ist wichtig
  • komplexe Systeme sind nicht vollständig beschreibbar, auch wenn viele Informationen vorliegen
  • die Prozesse in Gruppen zu kennen hilft dabei, das Vorgehen in Netzwerken zu verstehen: Im ersten Moment versuchen Menschen, komplexe Sachverhalte zu vereinfachen - sobald dies geschehen ist, kommt wieder mehr Komplexität dazu. 

Systemische Kommunikationskompetenz

Die Netzwerk- und Koordinationsarbeit besteht zum Großteil aus Kommunikation. In der Systemischen Arbeit gibt es Hinweise, wie die Kommunikation im Netzwerk gelingen kann. Die Referentin Anke Lingnau-Carduck stellte den Teilnehmenden Systemische Kommunikationskompetenzen vor, die dabei unterstützen können, die Arbeit in Netzwerken zu gestalten. Wichtige Elemente Systemischer Kommunikationskompetenz sind:

  • klare, transparente und direkte Kommunikation: Offene und ehrliche Kommunikation ist essenziell, um Missverständnisse zu vermeiden und Vertrauen aufzubauen.
  • Win-Win-Denken und -Kommunikation: Es wird angestrebt, dass alle Beteiligten von einer Lösung profitieren, anstatt einseitige Vorteile zu suchen.
  • offene W-Fragen: Durch gezielte Fragen wie „Was?", „Wie?", „Warum?" wird eine tiefergehende Kommunikation gefördert, die Raum für Reflexion und Perspektivenwechsel schafft.
  • Reframing: Durch einen Perspektivwechsel werden Herausforderungen neu interpretiert und Lösungen anders wahrgenommen. Dies hilft, eingefahrene Denkmuster zu durchbrechen.
  • ressourcen- und lösungsorientierte Kommunikation: Der Fokus liegt darauf, bestehende Stärken und Ressourcen zu erkennen und konstruktive Lösungen zu entwickeln, anstatt Probleme in den Vordergrund zu stellen.

Diese Elemente können Koordinationsfachkräfte nutzen, um Prozesse der Präventionsketten voranzubringen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist sich bewusst zu werden, in welchem Kontext welche Kompetenzen hilfreich sind. Der strukturelle Aufbau von Präventionsketten sieht vor, dass Steuerungs-, Lenkungs- sowie Planungsgruppen aufgebaut werden. Diese drei Gruppen haben spezifische Kommunikationsbedarfe. In der Steuerung geht es oft um strategische Entscheidungen, während die Lenkungs- und Planungsrunden stärker auf operative Abstimmungen und konkrete Planungen ausgerichtet sind. Das gemeinsame Ziel besteht darin, effektiv zusammenzuarbeiten und abgestimmte Entscheidungen zu treffen. 

Kommunikationsformen

Es gibt folgende Kommunikationsformen, die in der jeweiligen Situation eingesetzt werden können:

  • Bindungskommunikation: Sie dient dem Aufbau und der Pflege von Beziehungen. Sie schafft Vertrauen und fördert das Miteinander. Diese Kommunikationsart ist vor allem in der Anfangsphase eines Netzwerkes sinnvoll.
  • Entscheidungskommunikation: Hier geht es darum, klare Entscheidungen zu treffen, um Handlungsfähigkeit und Struktur zu gewährleisten. Diese Form der Kommunikation ist notwendig, wenn konkrete Maßnahmen und Prozesse abgestimmt werden müssen.
  • Reziproke Kommunikation: Dieser Prozess ist auf den Austausch von Geben und Nehmen ausgerichtet. Es geht um das Prinzip der Gegenseitigkeit und die Schaffung eines ausgewogenen Miteinanders und ist besonders in der kooperativen Zusammenarbeit wirksam. 

Merkmale komplexer Systeme

Im Verlauf der Veranstaltung beschrieb Frau Lingnau-Carduck die Eigenschaften komplexer Systeme, um die Dynamiken, die in komplexen Netzwerken entstehen, besser zu verstehen und produktiv in der Netzwerkarbeit nutzen zu können. Komplexe Systeme sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Selbstorganisation: Veränderung findet von innen heraus statt. Eine Steuerung von außen ist nur bedingt möglich, da das System selbst entscheidet, wann und wie es sich verändert. Dies wird oft mit der Metapher „Veränderung ist eine Tür, die nur von innen geöffnet werden kann" beschrieben.
  • Dynamik von Stabilität und Instabilität: In komplexen Systemen gibt es Phasen der Ruhe (Stabilität) und der Veränderung (Instabilität). Diese Phasen wechseln sich ab und es ist normal, dass es sowohl Phasen der Trägheit als auch Phasen des schnellen Wandels gibt.
  • Organisation von Ambivalenz: Komplexe Systeme müssen mit widersprüchlichen Bedürfnissen und Erwartungen umgehen. Ambivalenzen sind integraler Bestandteil und müssen aktiv gestaltet werden.
  • Widerspruch und Paradoxie: Systeme sind oft mehrdeutig und enthalten scheinbare Widersprüche, die aber zum Fortbestand und zur Entwicklung des Systems beitragen.

Herausforderungen in der Netzwerkarbeit

Im Rahmen der Netzwerkarbeit treten häufig verschiedene Herausforderungen auf, die das Zusammenspiel der beteiligten Akteure beeinflussen. Zu den wichtigsten gehören Widersprüche, Ambivalenzen und Konkurrenzen, die in unterschiedlichen Formen und Kontexten auftreten können. 

  • Widersprüche: Ein zentrales Hemmnis in der Netzwerkarbeit ist das Auftreten von Widersprüchen im Verhalten der Netzwerkteilnehmer. Häufig äußern diese den Wunsch nach mehr Engagement und Beteiligung, handeln jedoch nicht entsprechend. Ein konkretes Beispiel dafür ist die fehlende Teilnahme an angebotenen Veranstaltungen oder Initiativen, obwohl zuvor der Wunsch nach mehr Möglichkeiten zur Mitwirkung geäußert wurde. Diese Diskrepanz zwischen dem formulierten Bedürfnis nach Engagement und dem tatsächlichen Verhalten kann die Arbeit im Netzwerk erschweren und führt zu einem Spannungsfeld, das es zu überwinden gilt. 
  • Ambivalenzen: Auch Ambivalenzen spielen eine entscheidende Rolle in der Netzwerkarbeit, insbesondere im Umgang mit Familien. Diese zeigen oft ein zwiespältiges Verhalten: Auf der einen Seite äußern sie den Wunsch nach Unterstützung, lehnen diese aber gleichzeitig ab oder reagieren zögerlich auf Hilfsangebote. Eine solche ambivalente Haltung erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Verständnis seitens des Netzwerks. Es gilt, sensibel auf die Bedürfnisse der Familien einzugehen und gleichzeitig die Balance zwischen Hilfsangebot und Selbstbestimmung zu wahren. 
  • Konkurrenzen: Neben Widersprüchen und Ambivalenzen können auch Konkurrenzsituationen zwischen verschiedenen Professionen oder Anbietern innerhalb des Netzwerks entstehen. Statt diese Konkurrenz zu verdrängen oder negativ zu bewerten, sollten diese als konstruktiver Bestandteil der Netzwerkarbeit betrachtet werden. Durch den bewussten Umgang mit Konkurrenzsituationen können Synergien geschaffen und unterschiedliche Perspektiven integriert werden, was letztlich zu einer Bereicherung der Arbeit im Netzwerk führen kann. Die Auseinandersetzung mit Widersprüchen, Ambivalenzen und Konkurrenzen ist ein wesentlicher Bestandteil der Netzwerkarbeit. Durch ein offenes und flexibles Herangehen an diese Herausforderungen kann ein produktiver Umgang mit den verschiedenen Dynamiken erreicht werden, was die Zusammenarbeit im Netzwerk nachhaltig stärkt.

Das Verständnis für die Organisation und Funktionsweise komplexer Systeme hat die Teilnehmenden dafür sensibilisiert, die Herausforderungen in Steuerungs-, Lenkungs- und Planungsrunden sowie in anderen Netzwerken aktiver zu gestalten. Gleichzeitig hat es ihnen geholfen zu verstehen, dass die Verantwortung für die Umsetzung von Prozessen im gesamten Netzwerk liegt.

Wir bedanken uns bei allen Teilnehmenden für zwei produktive Veranstaltungstage und laden Sie dazu ein, uns Ihre Themenwünsche und Bedarfe für weitere Vertiefungen per Mail mitzuteilen: praeventionsketten@hage.de.

Weitere Veranstaltungsberichte


Organisation

Die Veranstaltung wurde von der Landeskoordinierungsstelle Präventionsketten Hessen organisiert. Sie ist bei der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e. V. (HAGE) mit Sitz in Frankfurt am Main angesiedelt.

Das Landesprogramm „Präventionsketten Hessen – Gelingendes Aufwachsen, Kinderrechte leben“ wird durch das Hessische Ministerium für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege (HMFG) und die Auridis Stiftung gefördert. 

Weitere Informationen zum Landesprogramm finden Sie bei uns im Internet.


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