17.11.2021 – 22. Fachtagung "Leben und Sterben": Corona als Brennglas – Chancen gesellschaftlicher Veränderungen für die Sterbebegleitung

Bereits seit 1996 findet in Hessen nahezu jährlich die Fachtagung „Leben und Sterben“ des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration zu ganz unterschiedlichen Themen statt. In diesem Jahr stand die Begleitung sterbender Menschen in der Corona-Pandemie im Fokus. Über ein Jahr, seit März 2020, fordert uns die Pandemie, unsere gewohnten Abläufe zu hinterfragen und neu zu organisieren.

Plötzlich ging so Vieles nicht mehr. Die schönen Pläne, die liebgewordenen Abläufe und das alltägliche Leben haben sich massiv verändert. Die Berichte, wie Menschen in Krankenhäusern und stationären Pflegeeinrichtungen gestorben sind, haben uns betroffen und traurig gemacht. In der Häuslichkeit haben sich die Menschen zurückgezogen und haben auf eine Begleitung durch Ehrenamtliche verzichtet. Bestattungen fanden im engsten Kreis unter einschränkenden Corona-Regeln statt. Nicht alle An- und Zugehörigen konnten sich verabschieden. Die Angst vor Ansteckung und Tod hat uns unsicher gemacht.

Unter dem Titel „Corona als Brennglas – Chancen gesellschaftlicher Veränderungen für die Sterbebegleitung“ beschäftigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 22. Fachtagung „Leben und Sterben“ Mitte November 2021 mit den Auswirkungen, Veränderungen und Chancen bei der Begleitung, Betreuung und Beratung sterbender Menschen und ihrer Angehörigen.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Verbesserung der Sterbebegleitung“ bei der Hessischen Landesregierung waren sich schnell über das Thema der diesjährigen Fachtagung einig: Wir müssen uns mit dem erlebten Umgang mit sterbenden Menschen und ihren Angehörigen, mit dem Thema Einsamkeit und der Frage der Ausgestaltung der Sorgekultur am Lebensende beschäftigen.

Zentrale Fragen der Fachtagung waren: Was können wir aus der Pandemie lernen? Welche Entwicklungen werden die Hospiz- und Palliativbewegung möglicherweise verändern? Welchen Herausforderungen müssen wir uns zukünftig stellen? Müssen wir uns von Altem trennen? Wie stellen wir uns den gesellschaftlichen Veränderungen?

In zwei Vorträgen am Vormittag und in Workshops am Nachmittag konnten sich dazu die etwa 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer austauschen.

  • Vortrag: Corona als Brennglas – Chancen gesellschaftlicher Veränderungen für die Sterbebegleitung

    Referentin: Dr. Sonja Sailer-Pfister, Leiterin des Referats 3./4. Lebensalter im Bistum Limburg und bischöfliche Hospizbeauftragte.

    Einsame Menschen, fehlende direkte Begleitung, keine Möglichkeit der Nähe durch Dasein, Dabeisitzen und Handhalten sind Dinge, die uns allen im Gedächtnis geblieben sind. Und als Hospiz- und Palliativbewegung fühlen wir uns doch gerade auch in schwierigen Zeiten dafür verantwortlich, das Brennglas hinzuhalten und uns für ein mitmenschliches, würdevolles Zusammenleben bis zuletzt einzusetzen. Anhand verschiedener Beispiele schilderte Frau Dr. Sailer-Pfister Situationen der Begleitung sterbender Menschen während der strengen Kontaktbeschränkungen. Sterbende Menschen haben nur Blickkontakt mit Pflegenden und Besuchern gehabt. Die gesamte Mimik blieb hinter dem Mundschutz verborgen. Viele sterbende Menschen in den stationären Pflegeeinrichtungen sind ohne Begleitung aus dem Leben gegangen. Das ist sowohl für den sterbenden Menschen, für die Angehörigen und Freunde sowie für das Pflegepersonal grausam.

    Sterbebegleitung braucht Raum und die Erfahrungen und Erkenntnisse der hospizlichen Begleitung dürfen nicht zu Gunsten der Risikominimierung völlig außer Acht gelassen werden. Die Hospizbewegung kann für sterbende Menschen und ihre Angehörigen Räume öffnen. Aber nicht nur die Hospizbewegung muss sich Gehör verschaffen. Gleiches gilt für die soziale Arbeit. Beide wurden als nicht systemrelevant eingestuft. Heute, in der vierten Coronawelle, haben wir dazugelernt: Wichtig ist, dass die Hospizbewegung eine Beteiligung einfordert. Hospizbewegung möchte auf die Belange sterbender und trauernder Menschen hinweisen. Gerade der breite Blick auf das Leben zeichnet die Relevanz der Hospizbewegung aus.

  • Vortrag: Digitalisierung – Herausforderungen und Chancen für Sterbebegleitung und Hospizarbeit

    Referent: Prof. Dr. Thomas Zeilinger, Beauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft in München und Professur für Christliche Publizistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

    Digitalisierung umfasst ganz unterschiedliche Dinge: Mobilität, Spielen, digitale Öffentlichkeit, Alltag im Sinne der Unterstützungssysteme, Kommunikation, Information, Überwachung, wie Gesichtserkennung und Vieles mehr. Die Informationsrevolution verändert unser Leben. Technik wird immer kleiner und die Datenmengen wachsen. Digitalisierung hat einen Wandel in allen Bereichen in Gang gesetzt. Gerade im Bereich der Kommunikation vollzieht er sich seit Beginn der Coronapandemie rasant, auch in sozialen Bereichen.

    Digitalisierung ermöglicht Entlastung durch Assistenzsysteme wie mechanische Hilfen im Alltag, Smarthome, Information oder im Freizeitbereich. Nun kommt es darauf an, aus der Überfülle der Informationen, wesentliche Dinge zu filtern.

    Für die Hospizbewegung bedeutet der Wandel, die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen. Die Hospizbewegung ist gefordert, sich auf Technik einzulassen, nicht, sich dagegenzustellen. Dafür ist eine gewisse „Navigationskunst und Urteilsfähigkeit“ notwendig. Und es braucht dabei Unterstützung. Die Schnelligkeit der Innovation ist außerdem eine große Herausforderung. Die Rahmenbedingungen für die Nutzung der digitalen Möglichkeiten bleiben hinter den Entwicklungen zurück. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Menschen die gleichen technischen Voraussetzungen haben.

    Zudem dürfen bei der Digitalisierung ethische Fragen nicht außen vor gelassen werden. Wir müssen ethische Fragen im Zusammenhang mit Digitalisierung (digitale Ethik) diskutieren.

    Das Analoge ist essentiell und darf im Sterben nicht aufgegeben werden. Digitales sollte aber als ergänzende Möglichkeit und Erweiterung des Kommunikationsraumes verstanden werden. Wie das Zusammenspiel des menschlichen Miteinanders und der Digitalisierung gelingen kann, dieser Frage muss sich die Hospizbewegung stellen.

  • Themen der Workshops
    • Telefonieren in und rund um die Sterbebegleitung – Besonderheiten des Mediums Telefon in der professionellen Arbeit mit Menschen (Claudia Orthlauf-Blooß)
    • Smartphone, Tablet und Co.: Digitale Werkzeuge sinnvoll und sicher einsetzen (Guido Steinke)
    • Der Wert mitmenschlicher (Sterbe-)Begleitung unter Pandemiebedingungen – Sichtweisen, Erfahrungen und Erkenntnisse von Mitarbeitenden aus Hospizarbeit und stationärer Altenpflege (Barbara Schoppmann)
    • Selbstbestimmung bis zuletzt!? Zum Umgang mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid in der Hospiz- und Palliativarbeit (Prof. Dr. phil. Alfred Simon) – Download Vortrag Prof. Dr. Simon

Erkenntnisse der Fachtagung

  • Die Hospizbewegung sollte deutlicher Anwältin für vulnerable und sterbende Menschen jedes Alters gerade auch in Krisenzeiten sein. Menschen sollen nicht allein sterben müssen. Menschliche Nähe und würdevolles Sterben sollen an allen Orten ermöglicht werden.
  • Rückblickend ist festzustellen, dass die Hospizbewegung zu Beginn der Corona-Pandemie viel zu still war. Aus einem Sicherheitsverhalten mit dem Ziel, das Infektionsrisiko zu verringern, wurde oftmals auf die hospizliche Begleitung sterbender Menschen und ein würdevolles Leben bis zuletzt verzichtet.
  • Die Coronapandemie hat an den Grundfesten der hospizlichen Arbeit gerührt.
  • Die Hospizbewegung muss sich in den Versorgungs- und Begleitstrukturen auf kommunaler Ebene und auf Landesebene Gehör verschaffen. Die Hospizbewegung benötigt eine strukturelle Verankerung.
  • Öffentlichkeitsarbeit spielt eine große Rolle. Die Hospizbewegung muss stärker in allen gesellschaftlichen Bereichen zeigen, was sie leistet. Hospizarbeit ist nicht immer bequem.
  • Keiner existiert für sich in einer demokratischen Gesellschaft allein. Was ist den Menschen wichtig? Alle sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Die Coronapandemie hat uns gezeigt, dass wir mehr Solidarität brauchen.
  • Es muss über die Würde des Menschen im Leben und Sterben erneut nachgedacht werden. Würde ist eine Dimension, die das Menschsein auszeichnet. Was bedeutet Würde eines Menschen im Sterben? Was bedeutet würdevolles Begleiten, Pflegen für diejenigen, die sterbenden Menschen am Lebensende beistehen?
  • Der Digitalisierungsschub sollte genutzt werden. Es reicht nicht aus, die technischen Geräte und Anwendungen zur Verfügung zu stellen. Menschen benötigen kontinuierlich Qualifizierung, um die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen zu können.
  • Gerade im Bereich der Digitalisierung sollte die Hospizbewegung ganz neu denken.
  • Der Mensch kann KI (Künstliche Intelligenz) nutzen und benötigt dafür Sachverstand sowie eine ganzheitliche Bildung.
  • Digitalisierung kann nicht alles ersetzen. Die Seele ist etwas, was uns von der Technik unterscheidet, etwas zutiefst Menschliches.
  • Konferenztool Alfaview

    Gerade um sich auch bei einer Onlineveranstaltung auszutauschen, konnte das Veranstaltungstool Alfaview überzeugen, auch wenn es die eine oder andere technische Hürde zur Teilnahme zu bewältigen gab. Aber es konnten bereits im Vorfeld die virtuellen Räume besucht und die technischen Besonderheiten ausprobiert werden. Bei der Veranstaltung selbst war es den Teilnehmenden möglich, sich selbstständig durch die Räume zu bewegen. So entspannen sich insbesondere nach den Vorträgen im Foyer lebhafte Diskussionen.

    Natürlich kann auch eine Plattform wie Alfaview das Gemeinschaftsgefühl bei einer Fachtagung „Leben und Sterben“ nicht ersetzen. Sich in Präsenz zu treffen und auszutauschen sowie neue Akteure kennenzulernen, sind ein wichtiger Aspekt bei dieser Fachtagungsreihe. Es bleibt zu hoffen, dass wir uns bei der Fachtagung „Leben und Sterben“ zukünftig wieder tatsächlich in einem Raum treffen, diskutieren und gemeinsam weiterdenken können.

Danke!

Wir danken ganz herzlich allen Referentinnen und Referenten und allen, die zum Gelingen der 22. Fachtagung „Leben und Sterben“ beigetragen haben, sowohl vor der Kamera als auch hinter der Kamera!

Vielen Dank für Ihr Interesse an der 22. Fachtagung „Leben und Sterben“ und für Ihre freundlichen, motivierenden Rückmeldungen!

Die Tagung wurde gemeinsam von der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e. V. und dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration durchgeführt.


Seit 1996 veranstaltet das Hessische Ministerium für Soziales und Integration in der Regel jährlich die Fachtagung “Leben und Sterben”. Ziel ist es, zur Verbesserung der Sterbebegleitung beizutragen, insbesondere durch die Möglichkeit, sich mit Fachthemen inhaltlich auseinanderzusetzen, Fragestellungen weiterzuentwickeln oder Netzwerke zu knüpfen und Kooperationen zu planen bzw. auszubauen. Durch die Fachtagungen werden Impulse für die Weiterentwicklung der Arbeit vor Ort gegeben.